
008 – Die Kunst des Zuhörens
Im Zusammenhang mit Zuhören möchte ich zu Beginn einen kleinen Auszug aus einem meiner Lieblingsbücher mit Dir teilen – „Momo“ von Michael Ende.
„Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören.
Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.
Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo – dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören!“
Hören wir wirklich zu?
Viele Menschen glauben, dass sie zuhören. Doch oft tun wir das nicht.
Wenn wir z.B. mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt sind und das Gehörte unserem Bewusstsein gar nicht zugänglich ist, oder wenn uns ein Stichwort unseres Gegenübers an etwas erinnert und wir nur darauf warten einen Kommentar dazu abzugeben. Oder wie oft haben andere Menschen sofort einen Ratschlag für uns parat, denken es besser zu wissen, unterbrechen uns oder bewerten und interpretieren das Gesagte aus ihrem eigenen Weltbild heraus?
Eine große Schwierigkeit ist oft auch eine gewisse Schnelllebigkeit, Ablenkung durch z.B. soziale Medien – damit verknüpft ein Mangel an Zeit und Präsenz – und dass viele Menschen heutzutage zwar oft ein großes Bedürfnis nach Kontakt haben, aber nicht mehr wirklich wissen, wie sie in wohltuenden Kontakt kommen bzw. wie sie sich in Beziehung setzen können.
Die Kunst des Zuhörens
Tiefes zugewandtes Zuhören bedeutet für mich persönlich präsent zu sein und mir die Zeit zu nehmen, wahrnehmen zu können, was jemand eigentlich sagen oder ausdrücken möchte.
Wie verhält sich mein Gegenüber? Was nehme ich körpersprachlich wahr? Welche Emotionen sind spürbar?
Was berührt mich? Was steht vielleicht hinter den Worten? Oder was sagt jemand nicht?
Es geht also darum vielschichtig zu hören, aufmerksam zu beobachten und wahrzunehmen.
So bekommen wir oft wertvolle Hinweise, in welche Richtung wir vielleicht weiterführende Fragen stellen können. Häufig geht es auch darum, Gefühle zu bezeugen, z.B. „auszuhalten“, dass jemand einfach traurig ist, ohne sofort agieren zu müssen.
Aktives Zuhören ist, wie ich finde, ein komplexes und äußerst feines Unterfangen und gleichzeitig eines der größten Geschenke, das wir uns gegenseitig machen können.
Zugewandt zuzuhören steht für mich direkt in Zusammenhang mit dem, wie ich mich ausdrücke. Wenn wir jemandem wirklich zuhören und uns auch trauen zu sprechen, wird es möglich uns auf einer ganz anderen Ebene zu begegnen, auf der sich unsere Beziehungen vertiefen und verändern können.
Zuhören bzw. vom Gegenüber gehört zu werden und damit zu spüren, sich bewertungsfrei ausdrücken zu dürfen, führen fast immer zu mehr Klarheit über uns selbst und/oder andere, sowie zu Ruhe, Entspannung, Balance und Regulation. Wir stärken damit also nicht nur unser Bewusstsein, sondern tun auch unserem Nervensystem etwas Gutes. Denn je entspannter und uns selbst bewusster wir sind, desto einfacher ist es für uns, mit anderen angst- und urteilsfrei in Kontakt zu treten und neugierig zu sein.
Zuhören ist Übungssache
Die gute Nachricht ist, dass wir jederzeit üben und lernen können, aktiv zuzuhören. Dazu braucht es die Absicht zu lauschen, Zeit, Neugierde und auch unsere Bereitschaft die eigenen Reaktionen zu beobachten, also wahrzunehmen, was das Gehörte in uns bewirkt.
Wenn Du Dich im aktiven Zuhören üben möchtest, könntest Du z.B. in der Begegnung mit einem Freund, einer Freundin oder einem anderen Menschen einfach einmal versuchen ihre oder seine Welt zu verstehen, indem Du zugewandt, wertfrei und aufmerksam zuhörst und im Nachklang darüber ein wenig reflektierst.
Was verändert das in Dir? Wie fühlst Du dich dabei, wenn Du so interessiert zuhörst?
Wie verändert sich dadurch die Qualität Deiner Begegnungen?
Und gibt es vielleicht auch Menschen in Deinem Leben, bei denen Du automatisch Vorurteile hast oder eine gewisse Erwartungshaltung in Dir spürst, dass sie sich ganz sicher wieder auf eine bestimmte Art und Weise verhalten werden? Solltest Du Letzteres für Dich herausfinden, könntest Du bei diesen Personen ganz bewusst einmal aktiv zuhören und neugierig ein wenig nachfragen, um vielleicht die Erfahrung zu machen, in dieser Verbindung Neues zu entdecken.
Eine schöne Übung und Erfahrung kann auch das wechselseitige aktive Zuhören sein, indem man sich bewusst an einem ungestörten Ort, ganz ohne Ablenkung füreinander Zeit nimmt. Beispielsweise 30 Minuten, in denen zuerst eine Person 15 Minuten spricht, während die andere Person zuhört. Danach wird gewechselt.
Diesen dyadischen Dialog in Beziehungen zu eröffnen, kann viel bewirken und äußerst verbindend sein, weil möglich wird, dass an die Oberfläche kommen und geteilt werden kann, wofür im Alltag oft zu wenig Raum besteht, und wir zudem wieder mehr Gefühl für uns selbst und unser Gegenüber bekommen.
Sehr gerne möchte ich zum Abschluss auch noch einmal auf das wunderbare Buch „Momo“ verweisen und die herzliche Einladung an uns alle aussprechen, wann immer es möglich ist, in diesem kindlichen und offenen Geiste unseren Mitmenschen zugewandt zu lauschen.
In Verbundenheit, Ines
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